Transkript von Episode 101: Universalismus von unten – mit Jule Govrin

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Jule Govrin
Dennoch würde ich aber sagen, braucht man einen normativen Ankerpunkt und den
habe ich eben in der verkörperten Verbundenheit.
Ich nehme eben diese verkörperte Verbundenheit, diese radikale Relationalität,
die uns aneinander bindet, als kleinsten egalitären Nenner, um eine gewisse
Sorge und Schutzbedürftigkeit von Menschen anzunehmen, ohne aber quasi festzuschreiben,
wie das genau aussehen muss.
Das ist irgendwie, sagen wir mal, die philosophische Programmatik.
Aber dann ist es halt eben eine Form der philosophischen Praxis,
die eben nicht im luftleeren Raum bleiben will oder allein abstrakte irgendwie
Postulate aufstellen will, sondern mir genau anzugucken, wie das irgendwie umgesetzt
werden kann mit allen Schwierigkeiten, die es irgendwie gibt.
Hier ist das neue Berlin.
Leo Schwarz
Hier ist das neue Berlin.
Hallo und herzlich willkommen zur 101. Folge von Das neue Berlin.
Mein Name ist Leo Schwarz.
Jan Wetzel
Ich bin Jan Bette und.
Leo Schwarz
Gemeinsam mit unseren Gästen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften versuchen
wir hier, Gesellschaft und Gegenwart zu verstehen.
Gleichheit ist ein altes Menschheitsthema. In unterschiedlichsten historischen
und geografischen Kontexten haben menschliche Gemeinschaften Vorstellungen von
Gleichheit entwickelt und praktisch gelebt.
In Europa nahm der Gleichheitsgedanke zunächst im christlichen Denken und dann
in den Idealen der Aufklärung Gestalt an und wirkt in den Forderungen der französischen
Revolution bis heute fort. etwa in der bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz
oder in den allgemeinen Menschenrechten.
Zugleich bleiben viele Gleichheitsansprüche bis heute unverwirklicht.
Wir leben in einer extrem ungleichen Welt und in extrem ungleichen nationalen Gesellschaften.
Der Familienhintergrund, das Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle
Orientierung bestimmt vielerorts wesentlich, welche Lebenschancen,
welche Ressourcen, welche Anerkennung ein Mensch erfährt.
Die Gleichheitsansprüche der Gegenwart werden formell zugestanden,
aber bleiben häufig praktisch unverwirklicht. Für unseren heutigen Gast ist
das nicht nur eine Frage der politischen Umsetzung, sondern hat auch etwas damit
zu tun, wie wir uns Gleichheit bisher vorgestellt haben.
Jule Goffrin ist Philosophin und politische Autorin und zurzeit Gastprofessorin
am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim.
In ihrem neuen Buch Universalismus von unten entwirft sie eine Theorie radikaler
Gleichheit und versucht darin, Gleichheit noch einmal neu und zeitgemäß zu denken.
Jule Goffrin, schön, dass du da bist.
Jule Govrin
Vielen Dank, ich freue mich hier zu sein.
Leo Schwarz
Dein Buch scheint mir dezidiert politisch orientiert zu sein,
durchaus ein engagierter Text, der wirklich an den brennenden Problemen und
Krisen der Gegenwart ansetzen möchte.
Vielleicht kannst du kurz erläutern, welche Bedeutung für dich in diesem Zusammenhang
überhaupt das Nachdenken über Universalismus spielt.
Was hat dich dazu motiviert? Wieso ist das eine Frage, die uns eigentlich immer
noch auf den Nägeln brennt?
Jule Govrin
Universalismus hat mich aus politischen Gründen oder Gründen der politischen
Dringlichkeit, aber auch aus philosophischen interessiert.
Zum einen erleben wir aktuell gerade durch den Autoritarismus,
aber auch durch ökonomische Ungleichheit, dass Gleichheit immer weiter in die Ferne rückt.
Und dementsprechend auch Universalismus einigermaßen aus der,
sagen wir mal, der düsteren Zeit der Gegenwart fällt.
Die Menschenrechte angegriffen werden von rechter Seite.
Das heißt, Gleichheit und Universalismus scheinen sehr, sehr fern am Horizont zu sein.
Und ich glaube, genau deshalb ist es politisch sehr, sehr wichtig,
uns wieder daran zu erinnern und zu besinnen und gleichermaßen aber eben auch
neue Perspektiven auf den Universalismus und auf Gleichheit als eine gelebte Praxis zu finden.
Das führt mich zum philosophischen Problem, denn Universalismus ist ja durchaus
ein wenig verpönt, sagen wir mal so,
aufgrund von feministischer Kritik auf post-undekolonialer Kritik,
dass Universalismus allzu sehr aufklärungsphilosophisch auf einer recht,
sagen wir mal, einheitlichen Figur eines bürgerlichen, weißen,
maskulin gerahmten Subjekts aufbaut.
Und eben deshalb muss man, finde ich, Universalismus anders denken,
also auf Differenz aufbauend und Gleichheit eben nicht als ein fernes Ideal
für die Zukunft, sondern eben als eine gelebte Praxis in der Gegenwart.
Und genau diese Spurensuche nach einem Universalismus von unten und nach Formen
der gelebten Gleichheit, darauf begibt sich dieses Bogen.
Leo Schwarz
Du schreibst am Anfang deines Buches, dass du anders vorgehen willst,
als vielleicht bestimmte klassische politische Philosophen das manchmal machen würden.
Du möchtest über Universalismus nachdenken in Form einer nicht idealen Theorie.
Kannst du mal beschreiben, was das bedeutet?
Jule Govrin
Das knüpft an verschiedenste Theorien an. So einmal war es mir eben wichtig,
einen Universalismus zu skizzieren, der nicht bei einer kantianischen Konzeption
vom Vernunftsubjekt ansetzt, sondern eben bei Menschen als verkörperten Wesen,
die in ihrer Relationalität, ihrer sozialen Verbundenheit begriffen werden.
Und damit gewissermaßen auch in Formen der gelebten Praxis zu finden,
die sozioökonomisch eingebettet sind oder das sozioökonomische Mitdenken,
die Sorge um alle Mitdenken.
Das heißt vielleicht eine Form von, wenn man so will, materialistischem Universalismus
statt moralischem Universalismus.
Und da beziehe ich mich auf verschiedenste Autoren und Autorinnen,
die eben diese ideale Theorie aus guten Gründen kritisieren,
wie beispielsweise Charles Mills,
der Rawls Gerechtigkeitstheorie kritisiert, weil Rawls halt in seiner Konzeption
von einem sehr abstrakten Subjekt und von einer sehr idealen Gesellschaftskonzeption
in seiner Vertragstheorie eben die konkreten Unterdrückungsverhältnisse und
die Differenzmarkierung von Menschen vollkommen außer Acht lässt.
Eine ähnliche Kritik findet sich bei Martha Nussbaum, die Ann Rawls kritisiert,
dass eben diese kantianische Konzeption des Vernunftsubjekts die Verbundenheit,
die Relationalität von Menschen und ihre Fürsorge, Bedürftigkeit,
ihre Abhängigkeit und Angewiesenheit aufeinander ausspart.
Und eben diese Kritiklinie nehme ich auf, um von da aus eben zu sagen,
okay, wir müssen Gleichheit ausgehend von der bestehenden Ungleichheit denken.
Und da mit Adorno gesprochen, wir müssen beim Leiden in der Welt anfangen und
können das nicht irgendwie weg abstrahieren.
Und dementsprechend versuche ich eben Gleichheit als Praxis zu denken und nicht
als ein fernes, sagt das Ideal.
Leo Schwarz
Hat das auch irgendwas mit Empiriebezug eigentlich zu tun?
Also Philosophie wird ja dann oft eher als so eine begriffliche oder irgendwie
konzeptionelle Übung verstanden und mir scheint schon, dass du versuchst,
das an eben konkreten Phänomenen zurückzubinden.
Ist das eher auch sowas wie eine Empirieorientierung der Philosophie dann dabei?
Jule Govrin
Das ist eine sehr deutliche Empirieorientierung der Philosophie,
die einerseits natürlich auch gewissermaßen meiner fokultianischen Perspektive
geschuldet ist, dass man die Gegenwart ausgehend von der Geschichte verstehen muss.
Das Buch ist ja einerseits sehr gegenwartbezogen, aber gleichermaßen leitet
es ja auch körpergeschichtliche, kapitalismusgeschichtliche Linien sehr stark ab.
Und gleichermaßen ist das Buch, oder verstehe ich philosophische Praxis oder
meine philosophische Praxis zumindest als sehr, sehr stark empiriorientiert, denn Philosophie ist.
Da muss man vielleicht ein bisschen, sagen wir mal, bescheideneres Verständnis
von Philosophie vertreten. Philosophie wird nicht die Welt erschließen.
Philosophie kann das bestehende Wissen, die bestehenden Praktiken,
die aufgreifen und beitragen mit Begriffsarbeit.
Aber es braucht dafür den Bezug zu Empirie. Also beispielsweise im Bezug auf
Schulden, die ich mir als ein konkretes Phänomen angucke, brauche ich quasi
die empirischen Erhebungen.
Beispielsweise zu Gesundheitskrisen, die in Austeritätskrisen aufgetaucht sind.
Das heißt, wenn man Ökonomie und Gesellschaft ausgehend von Verkörperungen betrachtet,
dann muss man ja sich irgendwie auf eine konkrete empirische Grundlage berufen.
Genau, das heißt, Philosophie in meinem Verständnis muss immer aus sich heraustreten.
Das heißt, sie kann nicht irgendwie bei sich selbst stehen bleiben,
sondern muss eben sich in Bezug setzen zu Sozialwissenschaften,
zu Politikwissenschaften und darauf aufbauen.
Und nur dann kann sie, wie ich es für mich verstehe, nur kritisch und transformativ werden.
Also ich würde Philosophie stets oder philosophieren als eine kritisch-transformative
Praxis begreifen, die eben einerseits die bestehenden Verhältnisse infrage stellt
und die Selbstverständnisse gewissermaßen entselbstverständlicht.
Dafür braucht sie aber dann eben auch die Bezugnahme zu empirischer Forschung
und zu anderen Disziplinen.
Und gleichermaßen kann Philosophie, wenn sie dann so will, transformativ werden,
indem sie eben Formen der egalitären Sorge, der gelebten Gleichheit benennt,
aufzeigt, die bereits existieren.
Und damit gewissermaßen auch, und damit ist sie unweigerlich engagiert,
eine Gegenerzählung zu bestehenden aktuellen autoritären Narrativen,
die besonders Angst- und Apokalypsenszenarien bedienen, dem eine Gegenerzählung entgegensetzen.
Jan Wetzel
Für mich als jemand, der vielleicht von der Philosophie da nicht so viel weiß,
kannst du vielleicht nochmal die Kritik an Kant wiederholen,
an diesem Subjektidee, weil man könnte ja auch sagen, das sage ich jetzt wie
gesagt als jemand, der da nicht so viel Ahnung hat,
Dass das eine ideale Konzeption ist, entwertet sie ja erstmal nichts.
Also es kann ja auch sozusagen einfach sein, genauso wie Gott oder solche idealen
Vorstellungen, die nie erreichbar sind sozusagen, dass das Teil des Sinns auch
ist, dass man dieses Ideal proklamiert so ein bisschen, sag ich mal,
um es anstrebbar machen zu können.
Kann das nicht auch ein Mechanismus sein oder was ist sozusagen die Kritik daran?
Jule Govrin
Naja, da gibt es verschiedene Linien der Kritik, wie ich sie eben skizziert
habe, von Mills oder von Nussbaum.
Man kann aber jetzt grundlegend, wenn man jetzt mal bei kann stehen bleiben möchte,
sagen, dass eben dieses aufklärungsphilosophische Hochhalten des Vernunftsbegriffs
dazu geführt hat, dass eben die Gemeinschaft dergleichen eben auf bürgerliche
Männer beschränkt wurde, weil eben dieser Vernunftsbegriff, wie er damals entwickelt wurde,
sehr, sehr starke Ausschlüsse mit sich gebracht hat, symbolische und politische
Ausschlüsse von Menschen, die rassifiziert sind, von Frauen,
von Menschen mit Behinderung, also von Menschen, die Armuts betroffen waren.
Das heißt im Grunde von einem Großteil der Menschheit. Insofern sehen wir da
diese Ausschussmechanismen, die historisch gesehen sehr, sehr schwierig sind
und die zu Recht irgendwie von feministischer, post- und dekolonialer Kritik
und auch Disability Studies angefochten wurden.
Nun glaube ich nicht, dass man den Vernunftsbegriff deshalb komplett verwerfen
muss. Das ist in keinster Weise mein Plädoyer.
Ich denke nur, dass es total wichtig ist, Menschen in einem anderen Verständnis
zu betrachten, das eben nicht Menschen als für sich stehende,
autonome Individuen begreift, sondern Menschen eben in ihrer Verbundenheit.
Weil wir verkörperter Menschen sind, sind wir für die Fürsorge und die Fürsprache angewiesen.
Wir sind eben miteinander, wir sind vergesellschaftet. Das heißt,
diese Idee eines für sich stehenden, autonomen, abstrakten Individuums als Grundlage
zu nehmen, um Gleichheit zu denken, erscheint mir vielfach fehlgeleitet.
Weil es eben diese materiellen Bedürflichkeiten, die geteilten Bedürflichkeiten
von Menschen vollkommen außen vor lässt.
Leo Schwarz
Da ist jetzt auch schon der Begriff des Körpers gefallen und mir scheint,
dass das auch so ein bisschen der Hintergrund ist, wieso Körper so ein Schlüsselbegriff bei dir ist.
Ich würde dich gerne nochmal fragen, welche Rolle spielt für dich eigentlich
dieser Körperbegriff? Er zieht sich wirklich durch dein Buch.
Du sprichst weniger zumindest von Menschen, weniger von Subjekten,
weniger von Individuen natürlich. Gut, das liegt nahe.
Wieso von Körpern? Jan und ich hatten so bei der Lektüre, also wir wissen natürlich
auch, dass das aus einer bestimmten intellektuellen Tradition kommt,
aber auch immer das Gefühl beim Lesen,
dass es so Körper auch irgendwie so ein bisschen reduktiv immer sich anfühlt
gegenüber Menschen von Körpern zu sprechen.
Welche Rolle spielt da der Begriff für dich?
Jule Govrin
Naja, zunächst einmal muss man sagen, dass Körperlichkeit oder Verkörperung
ein Anker oder ein philosophischer Ankerpunkt ist, um Menschen eben in ihrer
radikalen Relationalität zu denken und von da aus und eben Menschen in ihrer
Abhängigkeit und Angewiesenheit zu achten.
Und von da aus betrachte ich sowohl Ungleichheit als auch Gleichheit.
Das heißt, ich beschaue mir Ökonomie als Körperökonomie an, also wie sich quasi
wirtschaftliche Maßnahmen, wie beispielsweise Austeritätspolitik konkret körperlich,
das heißt beispielsweise gesundheitlich oder in Form von Gewalt oder Vernachlässigung
in Ausbeutung niederschlagen.
Weil man dadurch einfach, finde ich, eine sehr, sehr, auch mit Bezug auf Empirie,
eine sehr deutliche Sichtweise bekommt, wie Wirtschaftsprozesse schädigend sind
oder halt eben auch quasi dem Allgemeinwohl dienen können.
Diesmal gesagt zu quasi Ökonomie als einer differenziellen Körperökonomie.
Gleichheit schaue ich mir in verschiedenster Hinsicht in Bezug auf Körper an.
Einerseits irgendwie schaue ich mir Gleichheit ja eben als eine prekäre Praxis an.
Soziale Praktiken sind immer schon verkörpert.
Dann geht es mir auch gerade darum, dass Gleichheit in keinster Weise bedeutet,
quasi dass es eine Gleichförmigkeit bedeutet, sondern dass Menschen sich in
ihrer Vielfältigkeit von Körpern und in ihrer Verschiedenheit entfalten können.
Dafür braucht es aber bestimmte materielle Grundbedingungen,
wie Gesundheitsfürsorge, sicheres Wohnen, Bildung und so weiter.
Das sind ja erst mal quasi verkörperte Bedürfnisse, die wir alle miteinander teilen.
Das heißt, dieser Fokus auf Körper führt mich eben zu Fragen nach einer egalitären Sorge.
Und nicht zuletzt nehme ich eben Verkörperung oder den Umstand,
dass wir verkörpert sind und dadurch aneinander gebunden sind,
als so einen Ansatzpunkt, um Gleichheit zu denken, als einen minimalen,
kleinsten, egalitären Nenner, den wir alle teilen.
Und das bedeutet eben eine maximale Offenheit für menschliche Verschiedenheit.
Denn bei einem Gleichheitsbericht geht ja nicht darum, quasi die Verschiedenheit
und die Vielfalt von Menschen zu negieren, ganz im Gegenteil.
Es geht ja darum, der Vielfalt gerecht zu werden und damit aber eben diesen
allerkleinsten egalitären Nennern zu nehmen, der eben daran liegt,
dass wir verkörperte Wesen sind und aufeinander angewiesen sind.
Leo Schwarz
Nun sind wir ja als Menschen nicht die einzigen Wesen mit Körpern.
Ist das auch eine bewusste Entscheidung?
Also ich meine, wir wissen natürlich, dass die Abgrenzungsversuche des Menschen
gegenüber anderen Teilen der lebenden Welt und der Unbelebten vielleicht auch
immer schwierig sind. Andererseits gibt es natürlich schon sicherlich Unterschiede,
die man auch zur Kenntnis nehmen kann.
Ist das auch sozusagen versucht, das nicht zu sehr zu so einem exklusiven Begriff auch zu machen?
Also im Sinne von nur Menschen?
Jule Govrin
Naja, ja, vielleicht. Das mag sein. Ich glaube, da könnte mich die ein oder
andere Haraway-Leserin durchaus kritisieren.
Ich gebe aber zu, ich glaube, ich bin einfach in dem Sinne doch sehr,
sehr klassischer Sozialphilosoph.
Mir geht es sehr dezidiert um menschliche, zwischenmenschliche Beziehungen und
um Formen der Vergesellschaftung.
Das bedeutet natürlich trotz alledem, dass man beispielsweise mit diesem Phantasma
der Naturbeherrschung aufräumen muss.
Und ich denke, die Idee quasi, Menschen in ihrer verkörperten Verbundenheit zu denken,
räumt eben genau mit dieser Idee, man könne sich als Mensch irgendwie über die
Natur hinwegsetzen, über diese verfügen und kontrollieren, räumt damit ein Stück
weit schon auf, weil es uns ja eben auch in der Abhängigkeit nicht nur von anderen
Menschen, sondern auch von unserer Umwelt zeigt.
Und das wird ja nun gerade auch in der Klimakatastrophe, in Zeiten der Klimakatastrophe
überdeutlich oder allein die Pandemie hat uns das ja schon sehr,
sehr deutlich vor Augen geführt, dass wir eben nicht nur von anderen abhängig
sind in aller Bedrohlichkeit, sondern eben auch von unserer Umwelt.
Und ich glaube, das führt vielleicht auch dazu, dass wir uns diese Idee eines
kontrollierenden, verfügenden, autonomen Subjekts, also dass einfach sehr,
sehr deutlich wird, dass es eine sehr fehlgeleitete Idee ist.
Jan Wetzel
Jetzt muss ich doch nochmal nachfragen, also diese Körperlichkeit hat eigentlich
den Sinn, diese Relationalität nochmal deutlich zu machen.
Gleichzeitig würde ich da auch nochmal nachfragen, weil die,
dass ich, also wenn ich sage, ich erkenne sozusagen grundsätzlich alle Menschen
auch als mit mir verbunden an, dann würde ich ja sagen, dann erkenne ich sie
als Menschen an und nicht als Körper.
Also kannst du vielleicht die Differenz irgendwie nochmal deutlich machen oder
muss ich sozusagen, um eben diese Vorstellung von so einer autonomen Subjektivität aufzugeben erstmal,
muss ich über den Körper gehen, um dann wiederum Menschen als Menschen anzuerkennen,
also wie ist das genau zu verstehen?
Jule Govrin
Na ja, zunächst geht es ja darum, uns als Gleiche und Freie anzuerkennen und
auch als solche zu behandeln bei all unseren Unterschieden.
Und ich glaube, dass das Wissen,
dass wir als körperliche Wesen einander brauchen und dementsprechend auch den
Schutz und die Sorge von anderen brauchen, dass das eine Form von anderer Betrachtungsweise
oder anderen Anerkennungsformen hervorbringen kann,
die sich eben nicht an Wertigkeiten ausrichten, wer beispielsweise als leistungsstarkes
ökonomisches Subjekt gilt und wer nicht.
Jan Wetzel
Also Körper ist eigentlich auch schon ein sozialer Begriff und kein biologischer.
Jule Govrin
Nein, achso, ich dachte, das wäre hinderlich klar. Aber wir können das auch
gerne nochmal ganz klar sagen, mir geht es dezidiert nicht um Körperlichkeit
in der biologischen Fassung, ganz im Gegenteil.
Ich komme aus einer sehr körperphilosophischen Richtung, die dezidiert den Körper
als einen politischen und sozialen Schauplatz nimmt.
Also gerade der Umstand, dass wir verkörperte Wesen sind, führt dazu,
dass wir sozial eingebunden sind, dass wir soziale Wesen sind.
Und stellt sich genau solchen biologischen irgendwie quasi Festschreibungen von Körperlichkeit ab.
Jan Wetzel
In der älteren Philosophie gibt es ja auch den Begriff des Leibes.
Ist der da auch irgendwie relevant in dem Kontext? Das ist natürlich ein bisschen veraltet.
Jule Govrin
Naja, da ist in der Phänomenologie, also in der Deutschsprache wird da mitunter
schon auch verwendet, wo dann irgendwie quasi das Leiblichkeit gegenüber oder
Leib-Körper-Dualismus angenommen wird.
Ich habe natürlich einige Schnittstellen mit der Phänomenologie,
weil es mir durchaus auch eben um quasi das Denken von Menschen als verkörperten
Wesen geht und auch um das körperliche Leben.
Allerdings bringt der Leibbegriff einige Schwierigkeiten, weil er eben den Leib
als eine individuelle, quasi vom politischen, dem vorgängige Form annimmt und
dann den Körper als die Ebene politischer Repräsentation annimmt.
Und ich würde sagen, das ist viel zu eng miteinander verflochten und verwoben,
um das in einen Dualismus zu überführen.
Natürlich gibt es auch Ansätze wie von Gesa Lindemann schon seit langem,
die eben die Verflechtung von Leiblichkeit und Körperlichkeit aufzeigen,
aber da gibt es zumindest meinerseits gegenüber der, sagen wir mal,
klassischen Phänomologie eine gewisse Skepsis, obwohl es auch da jetzt natürlich
kritischere, neue, feministische Ansätze gibt, wie beispielsweise Sarah Ahmed,
die ganz hervorragende körperphilosophische Einsichten wirken,
auch gerade wie irgendwie gesellschaftliche Machtverhältnisse auf das körperliche Leben einwirken.
Jan Wetzel
Es ist ja auch aber so eine anthropologische Überlegung, also die Körperlichkeit
die ist ja natürlich auch eher da, also bevor man richtig denken kann,
vergehen ein paar Jahre nachdem man geboren wird und so weiter,
man wird sozialisiert etc.
Also man ist eigentlich ganz grundlegend schon als Mensch natürlich pflegebedürftig
sozusagen, nämlich in dem Moment wo man geboren wird.
Leo Schwarz
Wir hatten jetzt schon mit Kant auch die Tradition des alten Universalismus,
sage ich mal, gestreift.
Ich würde das gerne noch ein bisschen vertiefen. Also normalerweise ist ja Universalismus,
wird ja ganz stark verbunden eben mit dem Diskurs der Menschenrechte,
den du auch umfangreich in deinem Buch behandelst.
Und die Menschenrechte sind ja auch trotz sozusagen aller berechtigten Kritik
auch irgendwie ein Erfolgsprojekt in dem Sinne, dass sie wirklich Einzug in
internationales Recht,
in Staatsverfassungen und dergleichen mehr gefunden haben und auch wirklich
ein dauerhafter normativer Bezugspunkt für die meisten Leute geworden sind in
fast allen Gesellschaften, die ich irgendwie einigermaßen kenne.
Vielleicht kannst du noch mal sagen, wo eigentlich erstmal grundsätzlich das
Problematische aufscheint.
Also ist es schon sozusagen diese Figur autonomer männlicher weißer Bürgerlichkeit sozusagen,
die auch da schwierig ist oder was für Aspekte sind da sozusagen in dieser Tradition
eigentlich so problematisch erstmal?
Jule Govrin
Erstmal würde ich absolut unterschreiben, dass die Menschenrechte schon eine
Volksgeschichte haben, wobei ich aber einwenden würde, gerade werden sie massiv
angegriffen und in Frage gestellt.
Also gerade sind wir an einem Zeitpunkt, wo wir die Idee der Menschenrechte,
den Gedanken der Menschenrechte umso stärker verteidigen müssen.
Auch das war ein Anlass, dieses Buch zu schreiben.
Und dabei müssen wir dennoch natürlich die Menschenrechte in ihrer geschichtlichen
Fassung und vielleicht auch in ihrer gegenwärtigen Fassung schon kritisieren und erweitern.
Aber eben nicht um sie abzuschaffen, ganz im Gegenteil, sondern um sie zu stärken.
Man muss natürlich unterscheiden zwischen quasi dem aufklärungsphilosophischen
Idee der Menschenrechte wie von der französischen Revolution und der Entwicklung
der Menschenrechte nach 1945 da muss man erstmal sehr sehr deutliche Unterscheidung
einziehen und man kann jetzt mit den Menschenrechten der französischen Revolution
und der Aufklärung sagen,
dass da leider genau diese Einklammerung wiederum war der Sphäre dergleichen
und dergleichen die dann eben in erster Linie bürgerliche Männer betroffen hat,
das würde eben jener Ausschlüsse einbeziehen die du angesprochen hast Vielen Dank.
Die Menschenrechte nach 1945 gestalten sich durchaus anders.
Das war, wie zum Beispiel Jana Mende herausarbeitend, ein sehr, sehr pluraler Prozess,
wo eben nicht allein westliche Staaten irgendwie involviert waren,
sondern wirklich ein sehr, sehr plurales Gefüge war und man die Menschenrechte
in ihrer Entwicklung ja nach 1945 auch als Politiken der Universalisierung begreifen
kann, die immer wieder erweitert wurden,
gerade weil es Einwände gab von Gruppen wie beispielsweise Menschen mit Behinderung,
von Frauen, von Gruppen aus dem globalen Süden, die immer wieder quasi darauf
beharrt haben, die Menschenrechte auszuweiten oder zu erweitern und umzuarbeiten.
Und dementsprechend würde ich diesen Prozess, wie gesagt, als Politiken der
Universalisierung begreifen, der total emanzipativ und wichtig ist.
Nichtsdestotrotz gibt es natürlich verschiedene Aspekte an den Menschenrechten,
auch in der Bestehendenfassung, die man kritisieren kann.
Und das sind sehr grundlegende Probleme. Also beispielsweise,
das hat Franziska Martinsen für mich sehr, sehr deutlich herausgearbeitet,
gibt es immer noch eine unterschwellige Orientierung an der westlichen Lebensweise.
Wie beispielsweise Artikel 17, das Recht auf Privateigentum,
was Privateigentum als hegemonialer Weg von Gesellschaftsorganisationen vorgibt.
Und dann gibt es ein noch wesentlich grundlegendes Problem, auf das Hannah Arendt
schon hingewiesen hat, nämlich, dass man das Recht braucht, Rechte zu haben.
Also der Widerspruch zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten,
was ja in der Praxis dann eben auch zu Menschenrechtsverwerfungen führt,
wie wir sie beispielsweise in den EU-Grenzregimen und Migrationsregimen erleben können.
Und allerletzter Punkt, aber dann doch nicht von der Hand zu weisender Punkt,
die Menschenrechte bei all ihrer Erfolgsgeschichte bleiben nach wie vor ein offenes Versprechen.
Und das sieht man alleine beispielsweise an der Weigerung von verschiedenen
politischen Kräften, gerade sowas wie die Lieferkettengesetzen zuzustimmen in vollem Umfang.
Das heißt, in keiner Weise, dass wir die Menschenrechte aufgeben müssen,
wir müssen umso stärker für sie kämpfen.
Aber mir scheint es total wichtig, eben auch genau diese Politiken der Universalisierung,
die immer schon sehr, sehr pluraler Prozess waren, in den Blick zu nehmen.
Leo Schwarz
Du meintest jetzt, dass die Zeit der französischen Revolution oder diese Phase
sozusagen der Menschenrechtsgeschichte sehr exklusiv war. Das stimmt sicherlich.
Also wenn man sich anguckt, wer dann jetzt ein Wahlrecht bekommen hat und die
ganzen anderen Bürgerrechte in Frankreich, das ist natürlich klar.
Gleichzeitig gibt es ja auch immer dieses Beispiel der haitianischen Revolution,
das parallel dazu läuft oder relativ zeitgleich ist und wo es ja offenbar,
ich kenne es leider auch immer noch nicht gut genug, diesen historischen Fall,
auch expliziten Bezug zu der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gab.
Und das wird ja dann auch eigentlich immer gerne als ein Beispiel dafür genommen,
dass sozusagen die unvollkommene Umsetzung der vermeintlichen Väter,
sag ich jetzt mal, der Menschenrechte und Mütter sicherlich auch,
dass diese unzureichende Umsetzung trotzdem ein Korrektiv findet sozusagen in
diesem offenen universalistischen Potenzial, was trotzdem drinsteckt.
Also man kann sich dann eben wie Olympe de Gauche oder Mary Wollstonecraft oder
auch eben die Haitianische Revolution eben doch darauf beziehen und sagen, wir übrigens auch.
Genau, also wie würdest du das einsehen? Das widerspricht jetzt nicht unbedingt
dem, was du gesagt hast, aber es würde sozusagen nochmal unterstreichen,
was für ein normatives und auch politisches Potenzial eigentlich in diesem Gedanken steckt.
Jule Govrin
Ja, es ist genau ein Beispiel, auf das ich mich ja sehr, sehr stark beziehe,
auch im Buch, weil beispielsweise Susan Bach-Morse, die zur Haitianischen Revolution
sehr, sehr viel geschrieben hat,
zum Beispiel diesen Begriff des Universalismus von unten am Rande einbringt
im Kontext der Haitianischen Revolution, ohnehin vollends auszuführen.
Und die Haitianische Revolution ist ja genau ein Beispiel dieser Politik in
der Universalisierung, wie ich sie gerade beschrieben habe.
Also, dass bestehende universalistische Normen in ihren Ausschlüssen angefochten
werden, aufgezeigt werden und dementsprechend
der Universalismus und die Menschenrechte erweitert werden.
Und das ist allerdings, also ich glaube, das kann man nicht als eine reine Erweiterung
von europagesetzten Normen begreifen,
sondern muss es auch nochmal aus der konkreten Unterdrückungserfahrung der Freiheitskämpferin
der feinartianischen Revolution betrachten.
Also auch da eine gewisse aus der Erfahrung herauskommende Bewegung.
Und genau das umfasst ja auch einen Universalismus von unten.
Also wo werden bestehende universalistische Normen erweitert von den Rändern
her, von jenen, die eben nicht als politische Subjekte primär angesehen werden
und die eben diese Anerkennung einfordern.
Und genau dieses von unten, von den Rändern her, Politiken der Universalisierung,
der gelebten Gleichheit zu erkennen,
das soll eben dieses Konzept des Universalismus von unten erlauben.
Leo Schwarz
Okay, also die Problematiken der Menschenrechte oder des Menschenrechtsdiskurses,
die sind teilweise, liegen die eigentlich in einer unzureichenden Umsetzung von Menschenrechten,
teilweise in sozusagen realen Machtverhältnissen, in denen Leute sie auch sozusagen
paternalistisch oder irgendwie von oben herab oder aus einer bestimmten Machtkonstellation
auch strategisch missbrauchen können.
Aber gibt es, du hast es zum Beispiel in diesem Eigentumsartikel angedeutet,
auch Probleme in der Anlage, in der Architektur sozusagen dieses Denkens?
Jule Govrin
Ja, also die, die ich jetzt auch garantiert nicht auflösen werde,
aber da, also eins der fundamentalen Probleme der Menschenrechte,
das hat wie gesagt Kanarien irgendwie angeht, also das Recht,
Rechte zu haben, also dass beispielsweise Staatenlose und Flüchtende,
die eben kein, also keine Bürgerrechte innehaben, sehr, sehr schwer quasi ihre
Menschenrechte gewährleistet werden.
Das als ein Problem dann also da hat beispielsweise Etienne Balibar sehr sehr
viel dazu gearbeitet und das ist natürlich ein Grundkonflikt zwischen Bürgerrechten
und Menschenrechten der bis in die Gegenwart fortbesteht,
und dann ist natürlich ein materieller Aspekt dass viele Menschen einfach gar
keinen Zugang haben ihre Rechte einzufordern,
was ja eine Frage von quasi konkreter oder materieller Ungleichheit,
aber auch fehlender Anerkennung bleibt.
Leo Schwarz
Da würde ich jetzt auch noch mal sagen, also das ist doch aber dann trotzdem
eher eine Frage der konkreten Institutionalisierung und also realer,
materieller Machtverhältnisse.
Jule Govrin
Letztere schon, aber erster Punkt nicht. Also wie gesagt, ich meine,
ich mache dezidiert keine Rechtsphilosophie irgendwie.
Dementsprechend irgendwie ist das ein Exkurs in neuer Diskussionen,
die ich nicht vertieft behandle in dem Buch.
Aber dennoch ist beispielsweise die Schwierigkeit zwischen Bürgerrechten und
Menschenrechten ist ein Grunddilemma, was in den Menschenrechten selber angelegt ist.
Leo Schwarz
Und das,
aber gut, vielleicht kenne ich dieses Argument nicht gut genug, aber es ist doch auch,
es bezieht sich doch eigentlich immer auf das Problem, dass es keine Instanz
gibt, keine Gewalt könnte man sagen, die Menschenrecht wirklich sanktionieren kann.
Sondern es wird immer nur nationalstaatliches Bürgerrecht institutionell bewährt, sanktioniert.
Und auf das kann man sich eben vor Institutionen berufen.
Und es gibt natürlich ein paar Institutionen des internationalen Rechts,
aber letzten Endes scheint es ja immer das Problem zu sein, dass es eben gerade
keine Power hinter dieser Forderung steht.
So hätte ich das verstanden.
Und dann wäre es ja, also dann wäre es für mich immer noch kein konzeptioneller
Fehler, sondern ein institutionelles Problem.
Jule Govrin
Gut, dann liegt der konzeptionelle Fehler in den Bürgerrechten, wenn man es so wendet.
Oder aber dann letztendlich in den Institutionalisierungsfragen.
Leo Schwarz
Zu dem anderen Aspekt des Besitzes. Du hast gesagt, das ist ja auch ein Teil
der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass jeder ein Recht auf Besitz hat.
Da steht jetzt natürlich noch nicht davon, dass es jetzt vielleicht irgendwie
eine bestimmte ökonomische Gesellschaftsform dazu geben muss.
Da steht ja erstmal nur, dass Menschen Besitz haben dürfen, alle.
Vielleicht kannst du das auch nochmal entfalten. Du rekonstruierst das ja auch
aus der europäischen Frühaufklärung, Frühstaufklärung von Hobbes über Locke auch nochmal,
wie stark auch so eine Vorstellung von Selbsteigentum, meine ich, wichtig wird.
Und wo genau ist da das Problem?
Also natürlich sind, also mir ist natürlich klar, dass Besitzverhältnisse hochgradig
ungleich sein können und hochgradig problematische ökonomische Dynamiken entfalten können.
Aber ist sozusagen schon die Vorstellung von Selbsteigentum ein irgendwie fehlter Gedanke?
Vielleicht kannst du das nochmal sagen.
Jule Govrin
Also ich glaube, das muss man thematisch ein Stück oder geschichtlich ein Stück
weit auseinanderzerren.
Weil natürlich irgendwie quasi mit dem modernen Menschenrecht nach 1945 die
Kritik ein Stück weit anders verläuft, dass dadurch irgendwie implizit eine
gewisse wässliche Lebensweise irgendwie mit fortgeschrieben wird, die beispielsweise,
die Idee hat, das Land als Privatbesitz irgendwie organisiert werden soll,
wenn einfach in großen Teilen der Welt irgendwie gerade Land kommunal organisiert wird.
Das sei mal dahingestellt. Und natürlich gibt es da einen Rückbezug zu, sagen wir mal,
aufklärungsphilosophischen Ideen von Gleichheit und von Eigentum,
aber da kann man jetzt nicht irgendwie eine Eins-zu-Eins oder eine ganz starke, direkte Linie ziehen.
Um zurückzugehen zu den frühen aufklärungsphilosophischen Texten bei Hobbes
und bei Locke, also gerade bei Locke wird ja Gleichheit als ein Selbstbesitzer
im eigenen Körper gefasst.
Und das ist ja grundlegend erstmal wahnsinnig emanzipativer Gedanke,
der ein Paradigma der Moderne ist und der auch einen politischen Gehalt hat,
den wir unbedingt verteidigen müssen, nämlich die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Jan Wetzel
Damals natürlich noch mit Leibeigenschaft und solchen Fragen.
Jule Govrin
Genau, und es hat auch irgendwie vor dem Hintergrund von Leibeigenschaft und
Monarchie irgendwie hat es einen wahnsinnigen egalitären emanzipativen Gehalt.
Nun ist es aber so, dass wenn man sich jetzt beispielsweise die Schriften von
Locke anguckt, Locke irgendwie in einem zweiten Schritt dann diesen Selbstbesitz
oder diese Selbstbestimmung über den einen Körper ein Stück weit,
einklammert, indem er einräumt, dass es auch möglich ist, über die Arbeitskraft
anderer zu verfügen in den Kolonien, was er unter dem Kriegsrecht fasst.
Das heißt, da gibt es dann, sobald die Gleichheit bei ihm postuliert wird,
wird sie sofort wieder eingeklammert.
Das ist natürlich problematisch, weil dadurch irgendwie in Unterscheidung eingezogen
wird zwischen besitzenden Körpern, verfügenden Körpern und verfügbaren Körpern,
die versklavt werden in den Kolonien.
Und andererseits halte ich es auch für philosophisch, aber auch politisch fehlgeleitet,
den Körper als epistemisch in Begriffen von Eigentum zu fassen.
Denn wir sind ja als verkörperte Wesen nicht selbstgenügsam,
sondern ganz im Gegenteil, wir sind eben durch unsere Körperlichkeit,
stehen wir immer schon in Bezug zu anderen.
Und das bedeutet, dass irgendwie die Form von Handlungsmacht,
die wir herausbilden können, immer schon eine vergesellschaftete ist,
eine sozial bedingte ist.
Freiheit und Handlungsmacht ist immer schon sozial bedingt aufgrund dieser Verkörperung.
Das heißt, wenn wir hier von Autonomie sprechen wollen, dann wäre es immer schon
eine relationale Autonomie.
Und diese Figur aber des liberalen Subjekts mit seiner Selbstgenügsamkeit war
einfach immer schon ein Phantasma der Aufklärungsphilosophie Und man muss es
auch irgendwie habituell sagen, von Philosophen irgendwie quasi,
die versorgt wurden durch die Arbeit, die Schattenarbeiten der Frauen,
der unbezahlten Haushaltsarbeit von Frauen im Hintergrund und gleichermaßen
eben der Schattenarbeiten.
Leo Schwarz
Das führt auch ganz gut zum zweiten Teil deines Buches eigentlich,
indem du dich ja umfangreich aus einer Art politischen Ökonomie der Körper widmest,
also eine fast ja Richtung soziologische Analyse machst.
Was für eine Rolle spielt das für dein Verständnis von Gleichheit erstmal,
von der, sagen wir mal, ökonomischen Ungleichmachung der Körper deinen Ausgang zu nehmen?
Jule Govrin
Naja, es ist mir eben wichtig, Gleichheit eben nicht als ein abstraktes Ideal
zu denken, sondern ausgehend von bestehender Ungleichheit.
Und ich glaube, dass Gleichheit ja eben bedeutet, dass es irgendwie egalitäre,
basale, materielle Grundbedingungen und Grundstrukturen für alle Menschen bräuchte.
Und da ist es natürlich auch erstmal zu schauen in den gegebenen Verhältnissen,
dass diese Bedingungen, diese Grundstrukturen nicht existieren in großen Teilen.
Und durch aktuelle Austeritätspolitiken sogar noch stärker zerstört werden und
marode geschmacht werden.
Leo Schwarz
Also gehst du schon erstmal aus von einer Situation, in der die meisten Körper
einfach ausgebeutete Körper sind in ökonomischen Verhältnissen.
Ja, vielleicht kannst du auch nochmal speziell auf die feministische Kritik
der modernen ökonomischen Auffassungen eingehen.
Jule Govrin
Ja genau, die feministische politische Ökonomie ist in zwei Linien oder in zwei
Hinsichten für mich wichtig und kommt zu tragen und umspielt gewissermaßen das
Thema Körper und Ökonomie oder eröffnet darauf Perspektiven.
Zum einen gibt es eben diese dann doch mit einer gewissen Tradition bestehende
feministisch-ökonomiekritische Perspektive,
dass es eben ein Großteil der Arbeit außerhalb von klassischen Donarbeitsverhältnissen
im Kapitalismus, in der Kapitalismusgeschichte vonstatten gehen.
Das bezieht sich irgendwie gerade auf die vergeschlechtliche Arbeitsteilung, also eben Arbeit,
die Sorgearbeit, Haushaltsarbeit, die eben nicht als Arbeit anerkannt wird und
natürlich muss man dem hinzufügen, eben auch die Arbeit,
die früher in Versklavenverhältnissen geleistet wurde, aber heutzutage vielleicht
sehr, sehr prekäre Arbeit, die in informelle oder in Form der informellen Arbeit gedrängt wird. Ja.
Und dieser Blickwinkel auf Ausbeutungsverhältnisse jenseits von klassischen
Lohnarbeitsverhältnissen ist sehr, sehr wichtig.
Zumal es sich ja gerade irgendwie dabei um Arbeiten der Sorge handelt,
um Arbeiten, die eben die soziale Reproduktion gewährleisten.
Das heißt, es ist gerade Arbeit, die sich um die körperlichen oder die materiellen
Bedürfnisse von Menschen drehen.
Also es ist ja genau diese Form der Arbeit, die entweder nicht als solche anerkannt
wird oder abgewertet wird.
Also zum einen eben Sorge- oder Haushaltsarbeit, die unbezahlt ist,
nicht anerkannt ist, zum anderen aber eben auch so etwas wie Pflegearbeit,
die sehr, sehr stark irgendwie präkarisiert ist.
Und es geht eben darum aufzuzeigen, dass eben diese Arbeit der Sorge und Versorgung
eigentlich die systemrelevante Arbeit ist, die Gesellschaften wirklich zusammenhält
und das führt mich dann wiederum auch nochmal andersrum zu Körper in einer sagen
wir mal normativen Hinsicht,
sagen naja, aber eigentlich sollte doch Ökonomie als eine.
Vergesellschaftung sollte doch eigentlich dafür sorgen, dass eben diese Grundbedürfnisse
von Menschen irgendwie befriedigt werden und das Allgemeinwohl im Fokus steht.
Das heißt, da spielt auch ein normativer Aspekt mit, die Sorge um alle und das
Allgemeinwohl in den Vordergrund zu stellen und dementsprechend Ökonomie nicht
im Zeichen von privatwirtschaftlichen Profit
zu denken, sondern eben allgemeinwohlorientiert und sorgeorientiert.
Das heißt, mit der feministischen politischen Ökonomie haben wir zum einen eben,
finde ich, sehr, sehr wichtige Mittel der Kritik, um bestehende auch Vorstellungen
von Wirtschaft ähm, äh, äh,
Zum anderen aber eben auch, um alternative Wirtschaftsweisen aufzuzeigen,
die eben allgemein wohl in den Vordergrund stellen.
Leo Schwarz
Vielleicht gehen wir auch noch ganz kurz, weil du dich auch dem Umfangreich
widmest, nochmal auf ein, zwei Grundprobleme aus diesem Teil deines Buches ein.
Du benutzt einerseits den Begriff der differenziellen Ausbeutung.
Gleichzeitig kommt differenziell auch in deiner Beschreibung der Gleichheit wieder vor.
Kannst du das nochmal in Beziehung setzen? Was genau bedeutet differenzielle Ausbeutung?
Jule Govrin
Genau, das ist ein Begriff, den ich aufnehme, ausgehend von den Arbeiten von
Veronika Gago und Lucy Cavallero, die von einem Differenzial der Ausbildung sprechen.
Und es geht eben darum, nicht den Fehler zu machen, wie er sich sowohl in den
Wirtschaftswissenschaften, aber auch beispielsweise in marxistischer Ökonomiekritik findet,
dass man von einem einheitlichen ökonomischen Subjekt ausgeht,
sondern ganz im Gegenwart zu sagen, Menschen werden in unterschiedlichen Maßen
ausgebeutet und das auch entlang von eben Differenzmarkierungen.
Und daher spreche ich von differenzieller Ausbeutung, um diese verschiedenen
Formen und Grade der Ausbeutung in den Blick zu bekommen.
Kapitalismusgeschichtlich, ich habe es gerade schon angedeutet,
kann man sagen, dass es zwei Arbeitsteilungen gibt, die eben keine Nebenschauplätze
kapitalistischer Akkumulationen sind, sondern in dessen Zentrum stehen,
nämlich die internationale Arbeitsteilung und die vergeschlechtliche Arbeitsteilung.
Das geht eben mit dem Begriff der differenziellen Ausbeutung darin,
genau den Blick dafür zu schärfen, den Fokus dafür zu schärfen.
Und das geht eben auch mit Form, das wäre der andere Begriff,
den du angeführt hast, der strukturellen Verwundbarmachung her.
Dass Menschen, die stärker ausgebeutet werden, weil sie beispielsweise,
weil ihre Arbeit migrantisiert ist, weil ihre Arbeit feminisiert ist.
Ganz oft auch in anderen Formen verwundbar gemacht werden.
Also beispielsweise indem sie ihre Rechte nicht wahrnehmen können,
weil sie soziale Diskriminierung erfahren, weil sie keine oder weniger Gesundheitsversorgung
haben, um jetzt mal beispielsweise beim Fall von migrantisierter Arbeit zu bleiben.
Das heißt, ökonomische Ausbeutung geht oft einher mit Formen der,
also ökonomische Verwertung, wenn man so will, geht einher mit Formen der sozialen Abwertung,
und zeigt sich dann eben auch konkret körperlich gefährdenden verschiedensten
oder kann sich in verschiedensten Formen zeigen, die eben Menschen verwundbar machen.
Wie eben keine Gesundheitsvorsorge zu haben, schwieriger eine Wohnung zu bekommen,
um nur wenige Beispiele zu nennen.
Jan Wetzel
Du hast vorhin schon auch als Ziel dessen sozusagen eher gemeinwohlorientiertes
Wirtschaften und Leben genannt.
Wenn ich in die Geschichte zurückblicke, auch sozusagen aus meiner eigenen Forschung,
wenn ich da immer mal begegnet, dann entstehen die ja eigentlich auch schon
früher. Also es wird ja eigentlich auch schon im 18.
Jahrhundert sehr früh erkannt, dass diese Konkurrenz ein tolles Prinzip ist
und vielleicht tatsächlich zu Wohlstand führen kann.
Aber es wird dann auch ziemlich schnell gesehen, dass das auch zu den schlimmsten
Verheerungen führen kann, wenn nur noch das Eigeninteresse und die Konkurrenz herrscht.
Und da sind ja dann auch Zeiten, wo Bildungsreformen schon stattfinden,
wo erste Versicherungskassen entstehen, Sparkassen und diese ganzen Sachen, die wir kennen.
Das sind ja alles Formen, die aber trotzdem jetzt nicht sich gegen Kapitalismus
stellen, sondern sagen,
wir müssen die Folgen dessen irgendwie abfedern und gucken, dass wir,
also das ist letzten Endes der Gedanke auch von Sozialversicherungen natürlich
und von solchen Systemen, wie würdest du die dann einordnen?
Also die sind natürlich, sind die zum Beispiel schon von unten?
Gut, müsste man wahrscheinlich im Einzelfall klären, aber was machst du mit
solchen Formen, die ja eigentlich schon in dem Gedanke von, wir müssen diese
Ungleichheiten, die jetzt verstärkt werden, irgendwie abfedern,
damit hier niemand sozusagen auf der Strecke bleibt?
Was vielleicht, um das noch hinzuzufügen, was davor, hatte ich jetzt könnte
ich mal so die Hegel-Zitate dazu, was davor durch die ständische Solidarität passiert ist.
Dadurch, dass man einem Stand angehört hat, einer Zunft zugehörig war,
waren auch bestimmte Pflicht- und Sorgeverpflichtungen waren dadurch geregelt
und die fallen natürlich weg, wenn die ständische Gesellschaft nicht mehr existiert.
Jule Govrin
Ja, solche Formen der institutionellen Solidarität, wie eben Beispiel die Sozialversicherung,
sind natürlich spannende Beispiele und zeigen natürlich eben auch,
dass man von unten nicht als eine rein einheitliche Bewegung denken kann.
Also, dass natürlich irgendwie quasi gewerkschaftliche Kämpfe wichtig sind,
damit eben gewisse Absicherungsformen institutionalisiert werden und man dem
natürlich auch den wirklich sehr, sehr wichtigen progressiven Gehalt nicht absprechen kann.
Was mich allerdings interessiert und
das vielleicht auch in etwas radikal-demokratischer Perspektive ist eben,
wie solche Impulse aus Bewegungen heraus aufgenommen werden können in institutionelle Politik.
Und da habe ich beispielsweise das, also schaue ich mir die besorgenden Städte
an in Barcelona, wo finde ich so ein sehr starker radikal-demokratischer Kreislauf gewährt wurde.
Da ging es erstmal darum, die Stadt eben sehr, sehr stark oder die Stadtpolitik
sehr, sehr stark sorgeorientiert zu gestalten.
Und die Regierung von Alakolau von 2015 bis 2023 kam aus der Bewegung selber,
also sehr, sehr geprägt.
Irgendwie Barcelona und Comou, ihre Partei war sehr, sehr geprägt von der Occupy-Bewegung,
der Indignalus-Bewegung in Spanien und hat einfach immer Rücksprache auch mit
der Bewegung gehalten während der Regierungszeit.
Das hat er es auch selber als rebellisches Regieren bezeichnet und hat zum einen
eben in dieser stetigen Rücksprache,
mit Akteuren der bewegungspolitischen Akteuren gestanden Und gleichermaßen Gemeinschaftsinitiativen,
Vereine nachhaltig, finanziell und mit Mitteln unterstützt, sodass die sich
wiederum stärker in die Gestaltung der Stadtpolitik einbringen konnten.
Und das sind, finde ich, Formen von radikal-demokratischen Organisationsformen,
wo auf eine wirklich sehr, sehr eindrucksvolle Art und Weise bewegungspolitische
Mobilisierung und eben institutionelle Politikformen zusammenspielen.
Leo Schwarz
Vielleicht bleiben wir dann noch kurz bei den Institutionen,
weil da scheinst du ja auch nicht so richtig entschieden zu sein.
Also es gibt da natürlich in den progressiven Teilen der Theoretiker zumpft
unterschiedliche Vorstellungen davon, in welche Richtung sich natürlich jetzt
eine bessere menschlichere Gesellschaft entwickeln soll.
Und in der Linken eigentlich einen ewig werdenden, mindestens 200 Jahre Streit
über, wie machen wir das denn jetzt nun, organisieren wir uns selbst oder versuchen
wir es über den Staat oder müssen wir alles zertrümmern und dann was Neues bauen
und so weiter. Also diese typischen Varianten.
Es scheint ja erstmal nicht unbedingt ein Widerspruch zu bestehen darin und
du scheinst den ja auch nicht unbedingt zu sehen zwischen irgendwie einer Sphäre
der verrechtlichten Gleichheit,
die eben doch durch die Institutionen gewährleistet wird, die wir nun mal haben,
eben die unvollkommenen Nicht-Idealen und eben konkreten Praktiken oder Bewegungen,
Strukturen des Aufbegehrens sozusagen sozialer Kämpfer auch.
Aber es scheint ja zumindest in unserer politischen Gegenwart immer auch ein Zusammenspiel zu sein.
Es gibt die Bewegung, dann gibt es die Partei, dann verfestigt sich die Partei
wieder, die Gewerkschaft wird korrupt oder der Chef gefällt mir nicht oder so.
Aber es scheint ja eher so ein Kreislauf zu sein, natürlich alles vor dem kapitalistischen
Hintergrund natürlich, aber also siehst du da irgendwie eine,
irgendwie hast du da strategische Präferenzen oder ist das einfach was,
was sich sowieso ergänzt?
Und also dein sozusagen dieser eher an den Rändern aufscheinende Universalismus,
den du so andenkst und den Universalismus, der eben doch durch Tradition von
demokratischen Institutionen und sozialdemokratischen Bemühungen,
beispielsweise Gewerkschaftsbemühungen und so weiter hervorgebracht wurde.
Also ist das irgendwie, wie ist das Verhältnis da?
Es ist irgendwie mir noch nicht hundertprozentig klar.
Du musst vielleicht auch gar nicht da eine Entscheidung treffen,
aber du konzentrierst dich schon sehr auf dieses eben aus der Bewegung herauskommende
Neue und nicht so sehr auf die festen, alten,
langweiligen, aber doch ganz funktionalen Strukturen, nicht wahr?
Jule Govrin
Das ist vielleicht auch einfach eine methodische Frage. Also es ist ja ein deutlicher
auch radikal-demokratischer Ansatz, den ich verfolge, der eben beim Politischen
ansetzt und von da aus auf die Politik schaut.
Auch eine sehr von Ronciere geprägte Vorgehensweise.
Und ich glaube allerdings, dass auch genau das wichtig ist für,
sagen wir mal, Demokratie als eine nachhaltige Lebensform.
Also dass es natürlich einer gewissen Institutionalisierung bedarf,
aber gleichermaßen eben die Mitgestaltung oder die gesellschaftliche Gestaltung
immer sehr, sehr bewegungsnah sein muss.
Oder ich meine, wir sprechen jetzt nicht vielleicht nur von dem ominosen Wort
von der Bewegung, sondern eben von Gemeinschaftsinitiativen,
Nachbarschaftsinitiativen.
Also wie wir das irgendwie beispielsweise in Form der Stadtpolitik irgendwie
sehr aktiv sehen, sei es jetzt in Berlin,
die aber gerade auch massiv angegriffen wird von irgendwie zunehmend autoritären
Politikstilen und die eben, sagen wir mal, vorbeiregieren an Bedürfnissen von Anwohnern.
Das hat jetzt sicherlich nicht deine Frage vollends beantwortet.
Aber vielleicht ist es auch eine strategische Unentschiedenheit,
die ich in dem Buch auch dann bei aller Klarheit in der radikal-demokratischen
oder in der Ausrichtung aus der radikalen Demokratietheorie kommt, einnehme.
Aber dass ich glaube ich nicht zum Beispiel glaube, dass es eine ganz trennscharfe
Unterscheidung möglich ist und vielleicht auch nötig ist zwischen sich jenseits
dem Staat zu organisieren oder mit dem Staat zu organisieren.
Jan Wetzel
Also vielleicht, das ist so ein Beispiel, wo ich dann immer dran denken kann,
dass natürlich Bewegungen natürlich, genau, Rechte erweitern können oder das
Spiel ändern können, aber ich will keine,
also dass ich sozusagen versichert bin über die Rentenversicherung oder die Sozialversicherung,
da geht es darum, dass der Rechtsanspruch gewahrt wird und dass ich irgendwie
darauf vertrauen kann, dass wenn ich jetzt dieses ganze Geld dort in die Rentenkasse stecke,
dass das dann in 30, 40 Jahren oder so, wann auch immer ich dann in Rente gehe, dass das dann da ist.
Und dort, das hat mit Körpern dann nicht viel zu tun.
Das ist eine reine Rechtsgarantie, die dann irgendwie die Bundesrepublik Deutschland,
wenn es sie dann auch gibt, irgendwie gewährleistet sozusagen.
Jule Govrin
Ich würde sagen, der Fragen der Altersarmut irgendwie, die damit zusammenhängen,
sind sehr konkret körperlich.
Jan Wetzel
Ja, aber die Garantie, dass das ausgezahlt wird, das ist eine Rechtsgarantie sozusagen.
Das ist dann eine Rechtsanspruch, eine Anspruchsleistung. Genauso wie beim Arbeitslosengeld
1. Das ist verbrieft und das kriege ich dann.
Und da brauche ich keine Bewegung, die dafür sorgt, dass mein Arbeitslosengeld ausgezahlt wird.
Und da bin ich auch froh, dass ich mich da nicht organisieren muss mit jemandem,
dass ich irgendwie Unterstützung bekomme in dieser Situation,
sondern da bin ich froh, dass ich das Anrecht habe durch das Sozialversicherungssystem.
Also das vielleicht nur zu der Frage, das sind so die langweiligen Sachen.
Aber es ist glaube ich auch kein Widerspruch. Aber was machst du damit dann?
Jule Govrin
Nee, gar nicht. Ich würde nur zwei Sachen ergänzen wollen.
Und zwar einerseits die Idee von wohlfahrtlichen Strukturen ist ja nun auch
einigermaßen begrenzt auf wohlhabendere Länder.
Das heißt, wir können nicht setzen, dass weltweit wohlfahrtliche Strukturen gewährt sind.
Noch nicht mal mehr in den USA und ich denke, wir erleben auch gerade nochmal
einen Aufwind von einem neoliberalen,
Zug und hin zur Austeritätspolitik, die genau solche Ansprüche,
solche rechtlichen Ansprüche massiv in Frage stellen.
Das haben wir beispielsweise mit dem Wahlkampf der CDU gemerkt rund um das Bürgergeld.
Auch die Rente wird immer wieder doch in Frage gestellt.
Ich glaube, irgendwie sind jetzt gerade der FDP Aktienrente als finanzwirtschaftliches
Abenteuer entkommen erst einmal.
Aber das, was du gerade als sozialstaatlichen Status vorbeschreibst,
ich glaube, den müssen wir ganz stark verteidigen.
Wohl wissend, dass quasi in großen Teilen der Welt dies noch lange nicht errungen ist.
Und wir gerade einen massiven Rückbau von sozialstaatlichen Strukturen im Zeichen
von neoliberaler Austerität erleben.
Und da brauchen wir dann wiederum die Bewegung. um alleine erst einmal das Bestehende zu verteidigen.
Jan Wetzel
Also es ist tatsächlich nicht der Widerspruch, sondern in dem Fall würde ja
eine Bewegung tatsächlich dafür eigentlich dann...
Eher sich engagieren, dass zum Beispiel diese Rechtsansprüche bestehen und der
Staat oder wer auch immer die leistet sozusagen.
Jule Govrin
Genau und da ist es ja auch total wichtig, dass beispielsweise,
also ich habe, ein Beispiel schaue ich mir die solidarischen Krankenhäuser in
Griechenland an, nach der Austeritätskrise, als irgendwie quasi das Gesundheitssystem
massiv demoliert wurde, irgendwie auch unter Druck von der Troika und der EU.
Und beispielsweise die solidarischen Krankenhäuser, die dann einfach Leute,
die aus ihrer Krankenkasse in einer sehr, sehr desolaten Lage geworfen wurden, versorgt haben,
haben auch immer wieder gesagt, dass es in keinster Weise darum geht,
irgendwie die staatliche Gesundheitsversorgung zu ersetzen, sondern immer wieder
darauf gepocht, dass sie sich de facto eigentlich selber abschaffen müssten.
Also ich glaube, es ist extrem wichtig, bei aller gemeinschaftlicher Community-Organisierung,
immer wieder auf das Recht zu pochen, Weil nämlich wir genau sonst eine Form
von neoliberaler Privatisierung irgendwie erleben, die sagen,
ihr könnt das auch gemeinschaftlich organisieren, ist doch super,
dann kann sich der Staat ja noch mehr zurückziehen und das ist total wichtig,
dass sich da nicht so eine Form von Community kapitalistischer Einhegung einschleicht,
wie sie beispielsweise Tina Hauptner und Silke van Dijk beschreiben.
Das heißt, dieses Pochen auf dem Recht, aber gleichermaßen auch solidarische
Strukturen herausbilden, muss immer zusammen gehen.
Jan Wetzel
Also ich meine, man hat das auch, das geht auch in die Richtung mit diesen Vorschlägen,
bedingungsloses Grundeinkommen für alle, aber dafür den Sozialstaat abschaffen,
das geht ja auch in so eine Richtung, wo man sagt, man sollte eigentlich die
Leute gar nicht bevormunden,
also dieser paternalistische Sozialstaat und so, das muss alles weg,
aber ihr bekommt alle ein bisschen Geld.
Das funktioniert aber natürlich nur, bis man eine schwere Krankheit hat und
plötzlich eine halbe Million braucht oder so, um wieder gesund zu werden,
was ganz, ganz schnell passiert, wenn man mal irgendwie einen schweren Unfall hatte.
Und wenn man den Rechtsanspruch nicht hat, dann nützen einem auch die 16.000
Euro im Monat, bedingungslos Grundeinkommen sind nichts.
Also das wäre auch so was, was du so im Blick hast, dass,
es eben nicht gegen solche Rechtsansprüche eigentlich gerichtet ist,
sondern in diesem Stärkungsverhältnis im besten Fall irgendwie.
Jule Govrin
Ja, auf jeden Fall.
Leo Schwarz
Also ich glaube, wir sind uns alle einig, dass diese sozialen Bürgerrechte zum
Beispiel, wie man sie ja nennt kann, mit Marshall auch wieder erodieren können,
wie alle Grundrechte wieder erodieren können und sozusagen nicht historisch
einmal errungen werden müssen und dann da sind.
Nichtsdestotrotz, auch wenn man jetzt keiner,
linearen Fortschrittsgeschichte folgt, was ja keiner mehr machen möchte.
Aber man möchte ja immerhin irgendwie Maßstäbe dafür haben, das war schon mal
gut, dass wir das haben und vielleicht können wir da noch was drauflegen.
Also schon, dass wir zumindest wissen, in welche Richtung der Fortschritt ist.
Das scheint mir schon notwendig zu sein, um erstmal irgendwie sich grundlegend
politisch zu orientieren und da,
also du hast ja jetzt mehrmals betont, ich will dir das auch gar nicht in den
Mund legen, dass du irgendwie die Menschenrechte angreifen willst oder den sogenannten,
den ich jetzt so genannt habe, alten Universalismus.
Aber ich versuche immer noch so ein bisschen herauszuarbeiten,
in welchem Verhältnis das steht eigentlich.
Also der sogenannte alte und dein neuer Universalismus.
Jule Govrin
Genau, da müssen wir aber, glaube ich, wirklich unterscheiden zwischen Menschenrechten
und Universalismus, denn ich möchte euch jetzt irgendwie auch keine falsche
Lesart unterstellen, aber das ist eher, mein Buch ist ein Plädoyer für Menschenrechte
und keine grundlegende Kritik der Menschenrechte.
Also das hat zum einen Gründe, weil ich keine Rechtsphilosophie betreibe,
zum anderen hat es auch konkrete politische Gründe, weil ich finde,
dass wir die Menschenrechte umso stärker verteidigen und hochhalten müssen in diesen Zeiten.
Das nochmal ganz kurz zu den Menschenrechten, weil mir das wirklich wichtig ist.
Zum Universalismus. Grundlegend muss man sich, glaube ich, von der Idee befreien,
dass Universalismus etwas für eine europäische Erfindung sei.
Also universalistische Ideen gab es irgendwie quer durch alle Epochen,
ebenso wie es irgendwie Formen der gelebten Gleichheit gab.
Und dennoch irgendwie quasi sehen wir natürlich irgendwie mit dem Universalismus der Aufklärung,
ja wir sehen natürlich irgendwie auch das egalitäre Gehalt, das emanzipative
Gehalt, wie eben die Idee der Selbstbestimmung
vor dem Hintergrund von Monarchien und dennoch gibt es da….
Natürlich Normen, die den wieder einklammern. Ich glaube, das Problem an diesem
Universalismus war eben, dass er de facto ja irgendwie Ausschlüsse mit sich
geführt hat, anhand von einer kantianischen Vernunftskonzeption beispielsweise,
die eben den Großteil der Menschheit irgendwie ausgeklammert hat.
Und dass wir auch damit einen gewissen, sagen wir mal, ein Gestus der moralischen
Überlegenheit einhergehen sehen.
Und Universalismus wird immer sehr, sehr schwierig, wenn er so einen Autoritätsanspruch
mit sich bringt und von oben herab irgendwie quasi gewährt werden soll oder
eben verweigert werden soll.
Und deshalb ist es mir diese Perspektivverkehrung wichtig,
mit Susan Buck-Morch irgendwie quasi zu sagen, wir müssen eine Form des Universalismus finden,
die eben von den Rändern entstehen, die eben quasi die universalistischen Normen
erweitern, die von eben jenen Menschen ausgehen,
die als politische Subjekte nicht anerkannt werden und sich irgendwie quasi
ihre Anerkennung erkämpfen, wie eben die Freiheitskämpferin der Haitianischen
Revolution oder die feministischen Bewegungen.
Und genau diese, sagen wir mal, diese Randbewegung der Politiken der Universalisierung,
die interessieren mich.
Und um jetzt nochmal einen großen Sprung in die Gegenwart zu machen,
wir erleben halt auch gerade, finde ich,
eine Debatte um Universalismus, die ich einerseits sehr spannend finde,
aber wo dann irgendwie auch beispielsweise Universalismus oder universalistische
Politiken gegen vermeintliche Identitätspolitiken ausgespielt werden.
Und das finde ich eine sehr irreführende Gegenüberstellung.
Und mir ging es auch darum, einen Begriff zu finden, der sagt,
Universalismus von unten verbindet in transversalen Linien verschiedenste Formen
der antirassistischen, der feministischen Politiken beispielsweise.
Zu sagen, auch quasi Black Lives Matters hat einen egalitären Gehalt,
auch queere CSDs, die sich irgendwie quasi gerade in Zeiten massiver Queerfeindlichkeit verteidigen,
haben einen egalitären Gehalt, weil sie eben an dem Begehren nach Gleichheit
festhalten und dafür kämpfen.
Und da geht es eben um eine Gleichheit, um Universalismus, der auf Differenz
aufbaut, der auf Vielfalt aufbaut, anstatt von einheitlichen,
unterschwelligen Normen.
Und um diese quasi Verbindungslinien zwischen verschiedenen Kämpfen zu zeichnen,
dazu dient mir eben auch dieser Begriff des Universalismus von unten.
Leo Schwarz
Die Verwundbarkeit ist ja dann auch ein Schlüsselbegriff deiner Bemühungen,
einen Universalismus von unten zu denken.
Gleichzeitig ist das ja jetzt gerade nicht die Verwundbarkeit,
die universelle Verwundbarkeit,
sondern es ist eben die Verwundbarkeit, die unterschiedlich ist zwischen den
Menschen in ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und in ihrer
unterschiedlichen differenziellen Ausbeutung natürlich.
Jule Govrin
Ja, ich gebe zu, Verwundbarkeit ist ein Begriff, mit dem ich in meinem Buch
eingefangen habe und beim Schreiben zunehmend ein sehr, sehr ambivalentes Verhältnis gewonnen habe.
Und dementsprechend auch inzwischen mit einer gewissen Skepsis dem Begriff gegenüberstehen.
Aber es war mir zunächst einmal wichtig, eben diese beiden Formen von Verwundbarkeit zu unterscheiden.
Also zum einen einfach eine ganz grundlegende Verwundbarkeit,
die wir alle teilen, weil wir verkörpert sind und zum anderen aber eben auf
den Umstand hinzuweisen, dass Menschen in verschiedensten Formen verwundbar gemacht werden.
Deshalb spreche ich auf der einen Seite von universeller Verwundbarkeit als
geteilte Grundbedingungen menschlichen Lebens, der Conditio Humana und eben
auf der anderen Seite von Formen der strukturellen Verwundbarmachung,
die eben gesellschaftlich und politisch und ökonomisch bedingt sind.
Und ich glaube, um jetzt mal ganz kurz bei dem Aspekt der universellen Verwundbarkeit
zu bleiben, dass man daraus nicht sofort Gleichheit ableiten kann oder irgendwelche
normativen Prämissen, denn um jetzt nochmal einen kleinen Rücksprung zu machen
in die Philosophiegeschichte,
Hobbes' Naturzustandbeschreibung ist geprägt von Verwundbarkeit.
Hobbes beschreibt ja irgendwie, dass Menschen sich vorhin dann da fürchten,
in einem Kriegszustand, im Krieg aller gegen alle sich befinden.
Das heißt, da ist so eine allgemeine Verwundbarkeit wahnsinnig präsent.
Da sind übrigens auch Körper sehr, sehr präsent bei Hobbes.
Und Hobbes Antwort darauf ist total autoritär mit der Erschaffung des Leviathans
als gebietener Souverän.
Das heißt, man kann aus Verwundbarkeit oder aus dem Feststellen einer allgemeinen
Verwundbarkeit sehr, sehr verschiedene Schlüsse ziehen.
Man kann daraus egalitäre Politiken ableiten, wenn man so will.
Man kann aber eben auch autoritäre Antworten daraus ziehen, wie es eben bei Hobbes der Fall ist.
Das heißt, ich würde sagen, da muss ein Zwischenschritt hin quasi.
Also Verwundbarkeit führt nicht automatisch zu Gleichheit, aber ich glaube,
dass ein Wissen um geteilte Verwundbarkeit, wenn sie sich denn in solidarische
Sorgepraktiken übersetzt,
zu Gleichheit führen kann in Form von egalitären Körperpolitiken.
Aber es braucht immer quasi die geteilte gemeinsame kollektive Reflexion.
Es braucht eben Formen von, um den Begriff von Binia Darmstadt aufzunehmen,
von neuen Beziehungsweisen, die in der Praxis entwickelt werden,
der gelebten Solidarität, bevor man von Gleichheit sprechen kann.
Es gibt eben keinen, man kann keinen direkten Rückschluss von Verwundbarkeit zu Gleichheit machen.
Leo Schwarz
Ich würde gerne nochmal zu deinen zentralen StichwortgeberInnen kommen,
also das behaupte ich jetzt so, dass es die sind, aber einerseits Judith Butler,
die du glaube ich mit dem Verwundbarkeitsbegriff nochmal ganz besonders zu Rate ziehst.
Also wie genau stellt dann sich jetzt Butler Verwundbarkeit vor,
sodass daraus ein Gleichheitsanspruch mehr oder weniger vermittelt erwächst?
Jule Govrin
Ja, Butler war ähnlich, also in anderer Form, aber er war auch ein recht ambivalenter
Umgang, weil ich das Buch geschrieben habe nach dem 7.
Oktober und dem Massaker der Hamas und Butler da einigermaßen unsägliche Äußerungen
von sich gegeben hat, weshalb ich irgendwie ein Stück weit damit umgehen musste,
wie Butler sich als politische Person äußert und gleichermaßen zu sagen,
naja gut, aber da fällt Butler hinter der eigenen Philosophie zurück.
Und Butler hat sehr viel zu Verwundbarkeit gearbeitet, schon seit 2005 und so
sehr Verwundbarkeit als zum
einen eben als eine geteilte Bedingung des menschlichen Lebensbegriffen,
ausgehend eben von unserer Verkörperung und andererseits aber eben auch darauf
hingewiesen, dass Menschen in unterschiedlichen Maße präkarisiert werden.
Also hat damit genau dieses Zusammenspiel zwischen universeller Verwundbarkeit
und struktureller Verwundbarmachung herausgearbeitet.
Und im Laufe der Jahre ist Butler aber, würde ich sagen, selber immer skeptischer
geworden gegenüber dem Verwundbarkeitsbegriff, was ich durchaus verstehen kann,
weil der eben einfach Vulnerabilität ist so sehr ins politische Diskursgeschehen eingebunden,
dass man ihn irgendwie schwerlich als so eine übergeordnete normative Kategorie verstehen kann.
Butler arbeitet deshalb mit dem Begriff der Betrauerbarkeit und stellt eben
ausgehend irgendwie von der jüdischen Ethik der Gewaltlosigkeit,
wie beispielsweise bei Levinas, die Frage, welche Leben betrauert werden und
leitet daraus irgendwie eine Ethik ab.
Und mir geht es dezidiert darum, nicht in der Ethik zu sein oder dass es um
eine ethische Einsicht oder um eine ethische Handlung geht.
Mir geht es dezidiert darum, wie dieses Wissen um geteilte Verbundbarkeit in
solidarischen Praktiken Raum findet und zu Formen der affektiven Gegenhabitalisierung führen kann.
Also wie neue Beziehungsweisen hergestellt werden, die sich eben um Gleichheit
bemühen oder eine prekäre Form von Gleichheit herstellen.
Nämlich zum einen, indem sie sich eben als Freier und Gleicher anerkennen bei
allen Unterschieden, bei situiertem Wissen,
bei auch konfligierenden Bedürfnissen und gleichermaßen sich aber auch solidarisch
und Sorgen organisieren, als dass sie eben die Sorgearbeit irgendwie quasi aufteilen
und vergesellschaften.
Also mir geht es irgendwie wirklich um diesen Einübungskarakter von Gleichheit.
Bei Butler erscheint Gleichheit immer eher so als ein Ereignis oder als eine
Haltung oder als eine Einsicht.
Und mir ist dezidiert wichtig zu sagen, Gleichheit als Praxis ist etwas,
was nicht plötzlich geschieht, was individuell ist, sondern was Menschen irgendwie
miteinander einüben, indem sie sich alltäglich, tagtäglich miteinander organisieren.
Und das ist ein prekärer Prozess, weil er natürlich brüchig ist.
Das ist nicht eine Eins-zu-eins-Erfolgsgeschichte, wie man eben auch an beispielsweise
politischen Bewegungen sehen kann.
Und dennoch, glaube ich, geschieht da was, dass Menschen gewissermaßen ihr Körper,
ihr habituelles Körperwissen umarbeiten, weil sie eben sich in solidarischen
Zusammenhängen bewegen.
Leo Schwarz
Und dein zweiter wichtiger Stichwortgeber, würde ich behaupten,
ist Ranciere, der eben mit seiner
radikal-demokratischen Vorstellung von Gleichheit wichtig für dich ist.
Den hast du jetzt auch schon eigentlich in Teilen auch schon beschrieben.
Aber wie kommt das jetzt alles bei dir zusammen?
Ich würde es gerne zusammenbinden.
Also wie kommt der Körper, seine Verwundbarkeit und die Gleichheit jetzt konzeptionell zusammen?
Also die Gleichheit, die Rassier dir vielleicht auch schon vorzeichnet, ja.
Jule Govrin
Bei Rancière kommt es nicht so sehr zusammen. Bei Rancière kommen Körper und Gleichheit zusammen.
Leo Schwarz
Also wie bringst du sie natürlich zusammen?
Jule Govrin
Zusammen, aber ich kann erstmal mit Rancière anfangen. Rancière hat ja den Gedanken,
und der ist auch ehrlich gesagt sehr wichtig, dass Gleichheit ein Ausgangsaxiom
ist, von der aus erst politische Kämpfe beginnen.
Also wir nehmen irgendwie eine grundlegende Gleichheit an und indem wir feststellen,
dass die eben nicht gewährt wird, quasi brechen irgendwie politische Kämpfe
aus, die er als Unvernehmen begreift.
Und damit hat er besonders eben gerne jene Menschen im Blick,
die nicht als politische Subjekte anerkannt sind, also die überhaupt erst nicht
ihre Anerkennung erstreiten müssen.
Und er begreift die Geschichte als einen anhaltenden Kampf um Gleichheit.
Und da kommt auch der Körperbegriff ein bisschen vor,
weil er beispielsweise von einer Ordnung der sprechenden Körper erzählt oder
das als Begriff annimmt, um eben nicht so eine kantianische Vernunftskonzeption voranzutreiben.
Und gleichermaßen steckt er eine Methode der Gleichheit vor,
dass wir in der Philosophie und in der Sozialwissenschaft nicht Ungleichheit
festschreiben, sondern eben auch Formen der gelebten Gleichheit sichtbar machen und erkennen.
Weil er beispielsweise, das ist ja ein bisschen unberechtigt,
aber Bourdieu vorwirft, dass beispielsweise bei sich progressiv verstehenden
Sozialwissenschaftlerinnen wie eben Bourdieu angenommen wird,
dass Menschen eigentlich immer schon ihre Ausbeutungsverhältnisse verstrickt
sind und da eigentlich gar nicht rauskommen können.
Und Rancière sagt, nee, nee, das ist schon der Fall.
Er geht dadurch beispielsweise die Arbeiterarchive der französischen Revolution und sagt, naja,
die haben sich total egalitär miteinander organisiert und haben sich irgendwie
von dem habituell zugewiesenen Platz irgendwie wegbewegt und dadurch irgendwie
eben auch Formen der Gleichheit hervorgebracht.
Und das nehme ich sehr, sehr stark auf. Also gerade diese Methode der Gleichheit nehme ich auf.
Nun sind allerdings bei Rancière, er spricht von Körpern, aber diese Körper
bleiben sehr, sehr abstrakt und sind nicht differenzmarkiert.
Und er nimmt, also er spricht auch der Sorge keinen großen Platz zu.
Bei ihm sind das eher so intellektuelle Tätigkeiten, die egalitäre Praktiken da sind.
Und ich würde sagen, man kann diesen Gedanken oder diese Methode der Gleichheit
von Rossier aufnehmen, aber man muss sie halt irgendwie quasi feministisch erweitern
in dem Sinne, dass egalitäre Praktiken ganz grundlegend darin bestehen,
Sorgearbeit zu vergesellschaften und anders zu verteilen, dass grundlegend alle
Menschen versorgt sind, aber eben auch es nicht ein Ungleichgewicht gibt,
wer mehr Sorgearbeit leistet als andere. Ja.
Das kann man natürlich nie irgendwie quasi ganz gleich verteilen,
aber dass das einfach im Mittelpunkt steht von solidarischen Organisationsweisen.
Und das würde ja dann sowohl der universellen Verwundbarkeit gerecht werden,
als auch gegen strukturelle Verwundbarmachung vorgehen, um den Bogen zur Verwundbarkeit zu schlagen.
Leo Schwarz
Vielleicht muss ich auch nochmal sozusagen nach dem philosophischen Ziel fragen,
weil vielleicht ist bei mir auch so ein Missverständnis da, was du eigentlich machen möchtest.
Also es ist so, dass zumindest in diesen klassischen universalistischen Theorien
es ja auch mal so ein Bemühen darum gab,
etwas einigermaßen verbindlich letzt zu begründen auch. Also letzt zu begründen ist natürlich kühn.
Wie möchte man das machen? Das sind natürlich
eh schon anachronistische Vorstellungen, aber es ging schon auch,
wie mir schien, oft darum, einfach in irgendeiner Weise so zu begründen,
dass es anerkennungspflichtig ist und keiner daran vorbeikommt,
dass das so ist. Und da kann jetzt niemand mehr hinter zurück.
Willst du auch so einen argumentativen Anker eigentlich werfen oder ist es eigentlich
bei dir eher doch schon so ein sozialwissenschaftlich gewordenes Interesse an
den konkreten sozialen Bedingungen,
in denen egalitäre Praktiken wirklich werden?
Also das sind ja irgendwie zwei verschiedene Projekte.
Jule Govrin
Oder? Ich würde sagen, dass ich versuche, beides zusammenzubringen, weil mir,
also natürlich ist es mir wichtig, Universalismus nicht mit einer,
als ein feststehendes Set von Normen zu denken, das ist so gegenüber diesen
ein wenig überkommenen Universalismuskonzeptionen,
das ist mir natürlich sehr, sehr wichtig und irgendwie quasi Universalismus
in seinen kontingenten Grundlagen zu sehen als Politiken der Universisierung,
Also Universalismus von unten ist irgendwie quasi eine kritische und transformative Bewegung,
in dem eben quasi eng stellende universalistische Normen in Frage gestellt werden,
angefochten werden und somit erweitert werden.
Und diese Bewegung von, diese Universalisierungsbewegung ist mir natürlich sehr,
sehr wichtig. Und dennoch würde ich aber sagen, braucht man einen normativen
Ankerpunkt und den habe ich eben in der verkörperten Verbundenheit.
Ich nehme eben diese verkörperte Verbundenheit, diese radikale Relationalität,
die uns aneinander bindet, als kleinsten egalitären Nenner,
um eine gewisse Sorge und Schutzbedürftigkeit von Menschen anzunehmen,
ohne aber quasi festzuschreiben, wie das genau aussehen muss.
Das ist irgendwie, sagen wir mal, die philosophische Programmatik.
Aber dann ist es halt eben eine Form der philosophischen Praxis,
die eben nicht im luftleeren Raum bleiben will oder allein abstrakte irgendwie
Postulate aufstehen will,
sondern mir genau anzugucken, wie das irgendwie umgesetzt werden kann mit allen
Schwierigkeiten, die es irgendwie gibt.
Also wo de facto irgendwie Menschen egalitäre Praktiken und Körperpolitiken
hervorbringen, mit welchen Problemen sie sich konfrontiert sehen und was man daraus lernen kann.
Und um eben auch dieses Wissen um gelebte Gleichheit ist irgendwie nichts,
was irgendwie eine Philosophie aus sich hervorbringen kann oder festschreiben
kann oder vorschreiben kann.
Da muss irgendwie quasi eher die Philosophie oder kritische Theorie,
wenn man so will, ein Stück weit einen bescheideneren Arbeitsauftrag annehmen
und sagen, man kann von dem bestehenden Wissen, wie sich Menschen egalitär organisieren können,
lernen und das aufzeigen und
dann eventuell mit Begriffen oder mit Begriffsarbeit bereichern irgendwie.
Aber das ist irgendwie quasi der dann doch irgendwie relativ bescheidene Arbeitsauftrag
von Philosophie als kritisch-transformativer Praxis.
Und deshalb würde ich sagen, ist es nicht das eine oder das andere Projekt.
Es geht unweigerlich mit.
Leo Schwarz
Bei den, sagen wir mal, eben eher klassischen Versuchen,
irgendwie so eine Art von Normengebäude aufzubauen, was natürlich problematisch
ist und auch irgendwie immer so ein bisschen realitätsfern, aber zugleich hat
das so ein bisschen den Vorteil ja auch, dass man irgendwie nachschlagen kann.
Wie stehen wir denn eigentlich zu dem und dem?
Also es hat sozusagen einen, erzeugt einen Begründungszusammenhang oder einen
deduktiven Zusammenhang auch zwischen bestimmten Normen und konkretisierten
Normen beispielsweise.
Also wir können dann auch vielleicht auch irgendwie sehr verwandt dem Rechtsdenken
auch konkrete Situationen nach konkreten Normen beurteilen, finde ich.
Und möglicherweise auch sogar, sagen wir mal, Prinzipien dann ableiten,
in dem Sinne, dass wir sagen müssen, okay, wenn das gilt, dann gilt auch das
und dann verteilen wir das jetzt so und so.
Also Gerechtigkeit oder Gleichheit ist jetzt eben distributive Gleichheit.
Jeder kriegt die gleiche Hälfte vom Kuchen oder so. Also was ich sagen möchte
ist, also die konkrete Operationalisierbarkeit oder die konkrete,
die normative Anwendbarkeit finde ich fast, wenn es darum geht irgendwie Urteilskraft zu entwickeln,
die scheint mir doch bei so normenproduzierenden Überlegungen dann ein bisschen
größer zu sein, als wenn man das sozusagen so sehr in die empirische Wirklichkeit schiebt, oder?
Jule Govrin
Naja, ich würde eher sagen, dass die idealen Theorien aber in der konkreten
Wirklichkeit ja vorbeigehen und diese größtenteils ausblenden,
zumal sie ja auch durchaus irgendwie nicht den allgemeingültigen und abstrakten Anspruch haben,
den sie vorgeben, weil sie durch einen habituellen Horizont begrenzt sind.
Leo Schwarz
Das ist auf jeden Fall der Paternismusgefahr.
Jule Govrin
Genau, aber daneben würde ich sagen, ich weiß nicht, ich finde,
also was heißt ich weiß nicht, ich weiß das eigentlich ziemlich genau,
ich glaube, dass verkörperte Verbundenheit und irgendwie die Idee,
oder der daraus folgende egalitäre Gedanke, dass Menschen Anerkennung und Sorge
erfahren sollten, dass sie sich als Gleiche und Freie entfalten sollten,
dass sie irgendwie quasi minimale materielle Grundbedingungen brauchen,
wie beispielsweise eben Gesundheitssorge, sicheres Wohnen, dass sie vor Gewalt
geschützt werden sollten,
dass sie nicht der Vernachlässigung ausgesetzt werden sollten,
gibt mir eigentlich sehr, sehr deutliche, gibt mir sehr klare Kriterien an die Hand.
Und ja, das ist ja nicht in einem Normenkatalog irgendwie ausgeführt.
Aber das würde ja dann auch wieder bedeuten, irgendwie quasi zu riskieren,
gewisse Lebensweisen festzuschreiben.
Aber mir war es irgendwie sehr, sehr wichtig, einen minimalen,
irgendwie quasi normativen Ankerpunkt zu haben, ohne irgendwie daraus ein feststehendes
Set an Prinzipien und Normen abzuleiten.
Leo Schwarz
Ja, das verstehe ich schon.
Jule Govrin
Es gibt auch eine gewisse quasi philosophische Gelenkigkeit auf die konkrete
Wirklichkeit einzugehen, anstatt sie weg zu abstrahieren.
Leo Schwarz
Absolut. Also ich glaube, es ist einfach ein unauflösliches Spannungsverhältnis.
Andererseits ist es natürlich auch der Reiz an etwas Normativen,
dass es eben kontrafaktisch ist oder kontrafaktisch in einem bestimmten Ausmaß sein kann.
Also dass ich sagen kann, ich weiß gar nicht mehr, wer hat das gesagt,
Searle oder so, dass deskriptive Sätze durch die Welt falsch gemacht werden
und normative machen die Welt falsch.
Das fand ich eigentlich auch immer eine ganz schöne Formulierung.
Dann sagen wir herzlichen Dank, Jule Gauvrin, für die wirklich geistreichen
Ausführungen zu ihrem sehr lesenswerten Buch, Universalismus von unten.
Er ist kürzlich erschienen bei Surkamp.
Jule Govrin
Ja, danke euch.
Leo Schwarz
Ansonsten wie immer, empfehlt uns gerne weiter, schaltet auch das nächste Mal
wieder ein und hinterlasst.
Jan Wetzel
Uns eine Bewertung in den sozialen Netzwerken, sehr wichtig,
also in den Podcast-Netzwerken.
Leo Schwarz
Und bis zum nächsten Mal. Macht's gut.
Jan Wetzel
Tschüss.