Realistisch bleiben? – Mit Victor Kempf über Menschenrechte und radikale Demokratie

Rechtspopulismus bedeutet landläufig: Autoritäre Politik, die sich gleichermaßen von Menschenrechten und Demokratie verabschiedet. Unserem Gast Victor Kempf ist das zu einfach. In einem Beitrag für den Leviathan hat er zuletzt darauf hingewiesen, dass im rechten Diskurs durchaus eine Vorstellung von Demokratie entwickelt wird: ein Kommunitarismus, der Menschenrechte akzeptiert, diese aber der Souveränität des Volkes unterordnet. Dem Rechtspopulismus ist also zunächst keine antidemokratische Haltung, sondern ein zweifelhaftes Verständnis von Demokratie vorzuwerfen. Gleiches gilt für das, was man neuerdings „linken Realismus“ nennt.

Im Anschluss an Jacques Rancière und Étienne Balibar plädiert Kempf dafür, Demokratie stattdessen als eine Praxis zu verstehen, in der die politisch Entrechteten ihre Stimme erheben. Der ohnmächtige Anspruch der Menschenrechte zum Schutz der Geflüchteten würde ersetzt durch deren eigene Forderung, als Gleiche im politischen Gemeinwesen teilzuhaben. „Das Volk“ ist eben nicht schon da, sondern stellt sich immer wieder neu her. So konnten in den letzten Jahrhunderten auch „Pöbel“, Frauen oder Migranten Teil des Demos werden. 

Wo aber ist das politische Potential für eine solche „radikale Demokratie“ zu suchen, die ihren Fluchtpunkt jenseits des Nationalen hat? Kann das demokratische Aufbegehren tatsächlich von den Ausgeschlossenen ausgehen oder entlastet uns das als „Privilegierte“ nicht einfach von politischer Verantwortung? Warum haben sich linke Parteien – von der Burgfriedenspolitik bis hin zur Agenda 2010 – immer wieder vom Nationalismus breitschlagen lassen?

Transkript

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Ein Kommentar

  1. Eine kurzer Kommentar zum Thema Menschenrechte // Trennung von Demokratie und Menschenrechten // Über die Rechte des „unpolitischen Menschen“ und zu der Frage, worüber man eigentlich redet, wenn in jeder sozio-politischen Situation zuerst einmal Rechte geltend gemacht, bzw. zugewiesen werden: Wer oder was ist das ein Mensch?

    Wer sich von einer normativen Betrachtungsweise lösen will und darum nicht daran vorbei kommt, die Paradoxiehaltigkeit zu bermerken, dass der Verzicht auf Normativität als normative Vorgabe aufgefasst werden kann, wird sicher ein Argument vorbringen können, das sich auf die gesellschaftliche Genetik der Herkunft des Problems bezieht. Denn Rechte aller Art werden von den Beteiligten nicht nur geltend gemacht und eingefordert, sondern auch da zugeordnet und machtvoll verankert, wo dieser Zuweisung keine Forderung entspricht. Beipiel: wenn jeder in jeder Situation Rechte haben darf, dann führt das bald dazu, dass jeder welche haben muss, auch dann, wenn sie unverlangt zugerechnet werden. Beispiel: das ungeborene Leben. Wenn man danach fragt, ob das ungeborene Leben überhaupt ein Mensch sei, dann werden die Schwierigkeiten der Beantwortung dieser Frage dadurch umgangen, dass man dem Leben einfach Rechte zuweist, im Sinne einer obrigkeitlichen Anordnung: es hat Rechte zu haben, weil sonst die Frage nach dem Menschen entweder ob seiner Schwierigkeiten nicht beantwortet werden kann oder gerade wegen dieser Schwierigkeiten eine Antwort ermöglicht, die normativen Vorgaben entgegen läuft.
    Mit Menschenrechten verhält es sich ähnlich. Der Mensch hat Rechte zu haben, darf sie also auch nicht eigenwillig abwählen. Wo dies nicht als humanistische Zudringlichkeit gesehen wird, die ihre eigene Legitimation von Gewalt erfordert, kommen die Schwierigkeiten zustande, von denen im Gespräch die Rede ist. Rechte als irgendwie aufgefasster Besitzstand sind nicht in allen Fällen eigensinnig durch Machtkämpfe erworben, sondern werden aufgrund nicht zu beendender Machtkämpfe immer schon zugewiesen, damit Machtkämpfe, die sich über ihre Mittel irritieren, überhaupt geführt werden können. Man könnte auch sagen: das paternalistische Verfahren der Zuweisung von Rechten ist bis heute ein blinder Fleck bei allen Diskussionen, die auf Normativität bestehen, schon deshalb, weil ja auch in diesen Diskussionen die eurozentristische und damit die Ausnahmeperspektive mitgesehen wird, ohne damit zugleich einer relativistischen Betrachtungsweise nachzugeben. Einerseits zu recht, weil aller Relativismus keinen befriedigenden Ausweg aus Normativitätskonzepten zeigt, andererseits aber wird der empirische Normalfall eigentlich nur als Sonderfall behandelt: dass nämlich die moderne Gesellschaft eine weltgesellschaftliche Konfiguration ist, die ohne eine globale Dimension in ihrer Strukturbildung keine Chance gehabt hätte. Anders ausgedrückt: Menschenrechte sind gerade ob ihrer Substanzlosigkeit unwiderruflichlich eingerichtet und werden — ähnlich wie Meinungs- oder Informationsfreiheit — zu einer Funktionsbedingung für Gesellschaft, hier speziell zu einer Funktionsbedingung für staatliche Macht. Erst wenn Rechte aller Art und immer mehr Rechte zugewiesen werden, stabilisiert sich das politische Systeme selbstreferenziell, stellt sich also wieder her und eröffnet zugleich eine Zukunft, einen offenen Horizont für die normative Ausgestaltung dessen, was sich als unverzichtbar bereits eingespielt hat.

    Aus diesem Grunde können Recht aller Art nicht nur in Anführungszeichen eines Für und Wider in Anspruch genommen werden, sondern auch, um sie gegen jene zu richten, die sie in Anspruch nehmen. Hinzukommen außerdem noch nicht-kodifizierbare Rechte, die ebenfalls nicht mehr aus der Welt zuschaffen sind, wie etwas das Recht, irgendwelche völkischen Kollektivimaginationen zu behaupten: So was ist nicht kodifizierbar, ist aber aufgrund der sozio-politischen Machtfigurationen als Gegenstand des Diskurses nicht zu eliminieren.

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